Die Verbannten der Feldstrasse, Teil 06


In dem Tiscio eine eigenartige Feststellung macht und ein weiterer Gast das Haus betritt.

Nachdem Gunnar nun mit seinem Bericht geendet hatte, legte Tiscio seinen Kopf schief, um ihn genauer zu betrachten. Seitdem der junge Erfinder ihm die Tür geöffnet hatte, hatte er ein seltsames Gefühl gehabt, dass etwas anders an ihm war.
Es hatte ihn die ganze Zeit unterschwellig abgelenkt aber jetzt, während sie schwiegen, betrachtete er Gunnar erneut und konnte dieses neue Gefühl deutlich spüren. Hätte er es beschreiben sollen, er hätte gesagt, dass Gunnar irgendwie, weiß nicht, halt, genau da war, wo er war.
Aber es war ein so fremdes Gefühl, dass er nicht wagte, Gunnar danach zu fragen. Stattdessen versuchte er die Konversation auf andere Weise aufrecht zu halten.
„Die Zurer kommen also jetzt zu euch.“
„Ja, es läuft gar nicht schlecht. Bis auf die blöde Seuche. Und sie haben eine Uni, an der ich ein paar Kurse belegt hab.“
„Blöd.“
„Warum?“
„Weil wir hier wegmüssen. Die [Hügelstätte] wissen, dass wir in Zur sind.“
„Mhmph“, war Gunnars einzige Antwort darauf. Was sollte er auch sonst antworten? Dass er auch bis drei zählen konnte? Dass er gerne weiter zur Uni gegangen wäre? Oder dass das Geschäft endlich gut lief?
„Wie zuverlässig ist deine Quelle?“ Im Grunde spielte die Antwort keine Rolle, aber jede Frage, die man stellte, zögerte die unvermeidliche Entscheidung hinaus.
„Kommt direkt vom Winterhirten.“
„Wow. Die Frühlingskönigin hast du nicht gefunden, aber eine Nachricht von ihrem Vorgesetzten erhalten? Da hätte er dir natürlich auch mal die Richtung weisen können.“
„War ein bisschen anders. Aber lass mal, ich bin nur gekommen, um euch das zu sagen.“
„Danke. Wäre die Krankheit nicht gewesen wären wir vielleicht auch schon weg. Aber ehrlich gesagt: wo sollen wir denn hin?“
„Weiß nicht. Einfach unterwegs bleiben.“
„Sicher ist das auch nicht.“ Gunnar betrachtete Tiscio endlich gründlicher und war erschrocken wie abgezehrt und dreckig er war.
„Hat’s dich wirklich so schlimm erwischt während der Seuche?“
„Drei Monate. Von einem Graben zum nächsten Kuhstall.“
„Oh Mann?“
„Wenigstens die Kühe waren nett.“
„So ein Mist.“
„Sehr witzig.“ Als beide zum ersten Mal grinsten fasste sich Tiscio endlich ein Herz.
„Sag mal: ist in den letzten Monaten irgendwas passiert? Irgendwelche seltsamen Besuche? Irgendein magischer Unfall?“
„Wieso fragst du? Hat deine Quelle irgendwas gesagt?“
„Nee. Ist nur … ist halt, dass du irgendwie leuchtest, so wie Vilet. Du bist einfach da?“
„Seit wann kannst du magischen Kram sehen?“
„So ist es nicht. Ist irgendwie ein Gefühl.“
„Mhm. Also Malandro hat nichts versemmelt, zumindest hat er nichts gesagt. Und Besuch hatten wir nur die Zurer. Willst du vielleicht was trinken?“
„Das hilft zwar auch nicht, aber gern.“
Sie gingen zur Küche, wo Gunnar über die Müden Körper der beiden anderen stieg und Tiscio am Eingang wartete. Malandro drehte nur schwach seinen Kopf in seine Richtung und lächelte schwach, sagt jedoch nichts. Tiscio versuchte zurückzulächeln, kämpfte aber zu sehr mit seiner Überraschung, dass er bei den beiden dasselbe Gefühl erhielt wie bei Gunnar.
Nachdem Gunnar einen heißen Kräuteraufguss in einen großen Becher gefüllt hatte gingen sie zurück in die Werkstatt, wo es zwar kälter war, sie sich dafür aber setzen konnten und die Kranken nicht störten.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Gunnar.
„Ich weiß nicht. Ich bin es inzwischen so gewöhnt, auf Wanderschaft zu sein … was ihr machen könntet, darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Habt ihr nicht irgendwelche Kontakte hier?“
„Nur oberflächliche. Kunden, Leute, bei denen wir was kaufen. Sowas.“
„Könnten wir vielleicht einen Wagen kaufen, um Mal und Kol mitzunehmen?“
„Aber wohin? Ich würde eher was mieten, damit wir nicht so offensichtlich zu finden sind und dann dort weiterplanen.“
„Habt ihr denn so viel Geld?“
„Kurzfristig würde es gehen. Aber dann bleibt halt nicht viel für was wir auch immer weiterplanen.“
„Ich hätte noch was. Damit könnte ich was mieten.“
Gunnar war versucht zu sagen, dass er das doch nicht annehmen könnte, aber in Anbetracht dessen, dass er immer noch ein wenig nachtragend war, hielt er den Mund und nickte nur.
„Aber erst morgen. Heute ist hier einer der freien Tage. Aber ich kann dir solange die Neuerungen an den Zweirädern zeigen.“
Tiscio empfand vielleicht nicht die Begeisterung, die Gunnar für seine Erfindungen spürte, aber er wusste, wie gerne sein Freund darüber sprach.
Und vielleicht lernte er ja sogar etwas dabei. Die Vorstellung, auf einer dieser Maschinen zu sitzen war schließlich nicht ganz ohne Reiz.

Am nächsten Morgen klopfte es schon wieder an der Tür.
Etwas früher dieses Mal.
Erheblich früher.
So früh, dass Gunnar dieses Mal seinen Knüppel mit zur Tür nahm und ihn hinter seinem Rücken versteckte, während er sie öffnete. Die Welt schwamm noch etwas in seinem Kopf, aber sobald er den Besucher losgeworden war, würde er sich einen Panas machen und seine Gedanken würden auf stabilen Boden ankommen.
„Ja?“ fragte er wenig kundenfreundlich. Vor ihm stand ein Mann, der die etwas dunklere Hautfahrer der Zurer besaß und auch Haar- und Augenfarbe mit ihnen teilte. Vermutlich würde er ihn nicht unter anderen Zurern herauserkennen können, was nach fast einem Jahr eigentlich nicht für ihn sprach.
„Ich wollte …“, der Mann blickte nach oben, wo sich das Ladenschild befand. „Ich wollte mich über Motorzweiräder informieren.“
Gunnar, der sich langsam besser in den Griff bekam, stöhnte nur innerlich und öffnete die Tür weiter, um den Mann hereinkommen zu lassen. Er wies ihm den Weg zur Werkstatt, die in diesem Fall auch als Ausstellungsraum dienen musste.
„Was wollen sie denn wissen?“ fragte er dieses mal etwas freundlicher, hielt seinen Knüppel jedoch immer noch hinter dem Rücken.
„Ähm. Wie funktioniert es?“
„Warum wollen sie das wissen?“ Es war ein Rückfall in die Unfreundlichkeit, aber Menschen, die wissen wollten, wie seine Erfindungen funktionierten, machten sich immer verdächtig, dass sie sie nachbauen wollten.
„Ähm. Es fährt doch mit Magie, oder? Und Magie ist ja nur unter bestimmten Bedingungen legal. Ich möchte nichts Illegales machen.“
„Es ist alles legal, sogar mit den örtlichen Stellen abgeklärt. Sonst wären wir schon lange aus dem Geschäft.“
„Können sie es mir zeigen?“
„Klar“, erwiderte Gunnar, ohne nachzudenken. Ihn hatte plötzlich ein Gefühl überkommen, dass der Mann vor ihm wirklich „da“ war, was einerseits ein verwirrender Gedanke war und andererseits Tiscios Worte vom Vortag in Erinnerung rief. Von seinem plötzlichen Gedankenwust abgelenkt drehte er sich zu einem seiner Gefährte und wollte gerade auf die magische Batterie deuten, als er ein Metallrohr an den Hals bekam.
Obwohl ihm die Luft wegblieb, drückte der Schmerz noch einen kleinen Schrei aus seiner Kehle.
Nur dass er von dem Schlag ins Taumeln geriet und über eine Werkzeugtasche stolperte, brachte ihn außerhalb der Reichweite des zweiten Hiebs, der ihn vermutlich am Kopf getroffen hätte. Gleichzeitig geriet sein Angreifer aus dem Gleichgewicht und verschaffte dem jungen Erfinder genügend Zeit, seinen Knüppel zu heben und zum Gegenangriff überzugehen, während er sich noch den Hals hielt.
Was man weder Gunnar noch Malandro ansah, war, dass sie sich auf ihren Abenteuern recht ausgiebig mit dem Knüppelkampf beschäftigt hatten. Tiscios momentanes Auftreten hätte ihn dafür schon als einen besseren Kandidaten erscheinen lassen. Deswegen konnte man es dem Fremden nachsehen, dass er mit einem wehrlosen Opfer gerechnet haben musste.
Quasi als ausgleichende Gerechtigkeit traf Gunnar den Fremden ebenfalls mit einem wilden Schwung am Hals. Der Mann ließ die Stange fallen und wandte sich zur Flucht. Als er jedoch gerade die Haustür öffnen wollte, sprang Tiscio aus der Küche und rammte ihn gegen die Wand, so dass die beiden Xpochler ihn überwältigen konnten, ihn fesselten und schließlich sogar knebelten.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst“, keuchte Gunnar mit rauer Stimme, während sie den Fremden zurück in die Werkstatt zerrten.
„Was?“
„Die Sache mit dem ‚da‘ sein, was du bei mir gespürt hast.“
„Ach das. Wie kommst du jetzt gerade darauf?“
„Weil ich das bei dem hier gespürt habe.“
„Ich weiß nicht. Ich spür jetzt gerade gar nichts. Vielleicht ist es der Schlag, den du abbekommen hast.“
„Ich hol mal Kol.“
Kol Therond, dem es immerhin so gut ging, dass er sich bei dem Gerumpel des Kampfes hatte aufraffen können, schlurfte wenig später ebenfalls in den Raum.
Gunnar erklärte ihm, um was es ging, aber „Nein. Ich kann nichts besonderes sehen. Ich habe auch wirklich keine Ahnung was es sein könnte“, waren seine einzigen Worte, bevor er sich wieder umdrehte, um erneut unter seiner Decke zu verschwinden.
„Das war jetzt wenig hilfreich. Und wir wissen immer noch nicht, was es damit auf sich hat. Aber was sollen wir jetzt machen.“
„Keine Ahnung, Erstmal zur Polizei gehen. Pass schnell hier auf.“
Tiscio nickte und hörte, wie Gunnar zur Tür ging und dort stehen blieb.
Gleich darauf standen sie sich jedoch wieder gegenüber.
„Das klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber ich spüre noch sowas wie ihn hier. Nur weiter weg. Und frag mich jetzt nicht, wie ich auf die Entfernung komme, aber ich schätze etwa zwei bis drei Kilometer entfernt.“
„Dann frage ich wohl nicht.“
Gunnar schloss die Augen und schien hinauszuspüren.
„Es kommt näher.“
„Unter anderen Umständen … ach was sag ich. Wir müssen hier weg.“
„Aber was machen wir mit Malandro?“
„Wir nehmen ihn und Kol auf die Zweiräder hinter uns.“
Natürlich war sich Gunnar sicher, dass Tiscio dringend noch ein wenig Übung mit dem Gefährt benötigte, aber was hatten sie sonst für eine Wahl?
„Mach du die beiden bereit, ich kümmere mich um die Räder.“
Von nun an gab es keinen Grund mehr zu diskutieren. Sie spürten beide, dass sie in Gefahr waren und wussten, was zu tun war.
Bis Gunnar die Räder bereitgemacht, beim dritten die Batterie entfernt, das nötigste in den Satteltaschen verstaut – d.h. das nötigste für ihn als Mechaniker – und das Tor geöffnet hatte, kam der Haufen Elend bestehend aus dem abgerissenen Tiscio und zwei Kranken in die Werkstatt geschluft.
Sie banden ihren Gefangenen an einen Balken in der berechtigten Annahme, dass jemand bald kommen würde, um ihn zu befreien.
Soweit man Kol Therond etwas ansehen konnte, meinten Gunnar und Tiscio in seinen Blick den leichten Rüffel zu erkennen, dass es vernünftiger gewesen wäre, den Fremden zu töten. Aber das war Kol, der als Spion und hochrangiger Diplomat vermutlich erheblich bereitwilliger Gegner tötete als die drei Xpochler, denen die Tode, die sie verursacht hatten, schwer auf der Seele lagen.
„Habt ihr keinen Hinterausgang?“
„Nicht mit den Maschinen. Die kriegen wir da nicht durch.“
Natürlich kippte das schwere Rad erst einmal um, als Tiscio seines bestieg. Nach etwas Hilfe durch den Erfinder gelang es ihm jedoch, es einigermaßen unter Kontrolle zu halten.
„Wohin wollt ihr fahren?“ fragte Kol Therond, während er mühsam sein Bein über den Sitz hob.
„Erst mal raus aus der Stadt“, schlug Gunnar vor.
„Weiter. Wir müssen viel weiter.“
„Hast du ein Ziel vor Augen, Tiscio?“ Kol musterte den jungen Mann vor sich auf der Maschine, obwohl dieser es gar nicht sehen konnte.
„Ich war auf meinen Wanderungen bei einem Tempel. Vielleicht können wir dort Hilfe bekommen.“
„Ein Tempel? Soweit ich weiß, gibt es in Zur keine Tempel mehr.“
„War auch eher eine Ruine.“
Gunnar zuckte mit den Schultern und nickte schließlich.
Nachdem auch die beiden Kranken auf den Böcken saßen, fuhren sie los und ließen das Tor hinter sich offen.

Die Verbannten der Feldstrasse